Corina Gantenbein (Präsidentin der Offiziersgesellschaft Obwalden) (Bild: VBS)

Die Pflicht zur Gerechtigkeit: Warum die Schweiz eine allgemeine Wehrpflicht für Männer und Frauen braucht

Eine Gleichstellung mit Ausnahmen

Die Schweiz versteht sich als egalitäres Land. Frauen haben das Stimmrecht, sitzen im Bundesrat, führen Konzerne – und sind dennoch von einer der grundlegendsten staatsbürgerlichen Pflichten ausgeschlossen: dem obligatorischen Dienst an der Gesellschaft. Eine solche Lücke wirkt im Jahr 2025 nicht nur anachronistisch, sondern auch demokratiepolitisch gefährlich. Ein Blick ins Ausland zeigt: Es geht auch anders – und die Schweiz hat Nachholbedarf.

Internationale Perspektiven: Wehrpflicht im Wandel

Norwegen – Gleichstellung konsequent gedacht

Norwegen war 2015 das erste NATO-Land, das die Wehrpflicht auf Frauen ausweitete. Der Dienst gilt für Männer und Frauen zwischen 19 und 44 Jahren. Die Einführung wurde breit unterstützt – sowohl politisch als auch gesellschaftlich. Das norwegische Verteidigungsministerium betonte: „Gleichberechtigung ist nicht nur ein Frauenthema – sondern ein militärischer Vorteil.“ Inzwischen leisten jährlich über 20 % der Wehrdienstleistenden in Norwegen freiwillig Dienst, viele davon Frauen. Die militärische Integration wird als Treiber für mehr Gleichstellung im Alltag betrachtet.

Schweden – Wehrpflicht reaktiviert und geschlechtergerecht

2017 reaktivierte Schweden seine 2010 ausgesetzte Wehrpflicht. Seitdem gilt: Männer und Frauen werden gleichbehandelt. Ausgewählt wird auf Basis von Eignung und Motivation – unabhängig vom Geschlecht. Das Modell hat die gesellschaftliche Akzeptanz der Armee gestärkt und neue, diverse Rollenbilder gefördert. Eine Studie der Universität Uppsala ergab, dass insbesondere junge Frauen den Dienst als „prägend“ und „identitätsstiftend“ empfanden.

Israel – Pflicht für alle, aber nicht ohne Diskussion

Israel ist das wohl bekannteste Beispiel für eine geschlechtsunabhängige Wehrpflicht. Sowohl Männer (32 Monate) als auch Frauen (24 Monate) sind zum Militärdienst verpflichtet, wobei zahlreiche Ausnahmen (z. B. religiöse Gründe) existieren. Die israelische Gesellschaft betrachtet den Armeedienst als Teil der nationalen Identität. Kritikerinnen bemängeln jedoch, dass Frauen zwar gleich verpflichtet, aber im Dienst häufig in untergeordnete Rollen gedrängt würden. Doch hier findet ein Wandel statt: Immer mehr israelische Soldatinnen übernehmen Führungsaufgaben oder dienen in Eliteeinheiten.

Frankreich, Deutschland, Österreich – Freiwilligkeit dominiert

In Frankreich und Deutschland wurde die Wehrpflicht ausgesetzt, doch neue Debatten entflammen. Präsident Macron führte 2019 in Frankreich den Service National Universel ein – ein freiwilliges Gesellschaftsjahr für Jugendliche, unabhängig vom Geschlecht. In Deutschland denken sicherheitspolitische Kreise laut über ein Gesellschaftsjahr für alle nach – analog zum Zivildienst. Österreich behält die Wehrpflicht bei, allerdings nur für Männer. Eine Ausweitung auf Frauen wird zwar diskutiert, scheitert jedoch bislang an politischem Willen.

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Gleichbehandlung im Dienst verändert mehr als den Dienst selbst. Studien aus Norwegen und Schweden zeigen, dass der gemeinsame Dienst Vorurteile abbaut, Teamfähigkeit stärkt und demokratische Werte fördert. Wo Männer und Frauen gleichermassen Verantwortung tragen, wächst auch das Verständnis füreinander – im Dienst wie im späteren Berufs- und Familienleben.

In Israel beschreibt eine Soldatin den Dienst als „prägende Erfahrung, die mir Führungsstärke und Selbstbewusstsein gegeben hat“. Ein norwegischer Wehrpflichtiger sagt: „In der Kaserne zählt, was du kannst – nicht, ob du Mann oder Frau bist. Das verändert den Blick auf Gleichstellung.“

Gleichzeitig sind auch Herausforderungen sichtbar: Der Dienst muss an weibliche Bedürfnisse angepasst werden, etwa bei der Ausrüstung oder beim Umgang mit sexueller Belästigung. Doch hier zeigen vor allem skandinavische Länder, dass diese Probleme lösbar sind – mit Aufklärung, klaren Regeln und einer modernen Führungskultur.

Stimmen aus der Schweizer Bevölkerung und Politik

Auch in der Schweiz mehren sich Stimmen für eine geschlechtergerechte Pflicht:

  • Marianne Binder (Mitte): „Eine moderne Schweiz kann sich keine einseitige Pflicht mehr leisten. Was für Männer gilt, muss auch für Frauen gelten – Punkt.“
  • Junge Grüne: sprechen sich für ein „solidarisches Gesellschaftsjahr“ aus – wahlweise in Umweltprojekten, Spitälern oder im Katastrophenschutz.
  • Bundesrätin Viola Amherd (Mitte): betont regelmässig, dass der Verteidigungsauftrag ein gesamtgesellschaftlicher sei – nicht nur einer der Männer.

Eine Tamedia-Umfrage von Januar 2025 zeigt: 63 % der Schweizerinnen und Schweizer befürworten eine allgemeine Dienstpflicht – sofern sie geschlechterneutral, flexibel und bildungsfreundlich ausgestaltet ist.

Chancen & Herausforderungen für die Schweiz

Chancen:

  • Förderung einer gelebten Gleichstellung
  • Stärkung der nationalen Kohäsion
  • Gesellschaftliche Integration junger Menschen
  • Aufbau von Resilienz gegen Krisen (z. B. Katastrophenhilfe, Cyberabwehr)

Herausforderungen:

  • Anpassung der Armee- und Zivildienststrukturen
  • Gefahr einer Symbolpolitik ohne echte Gleichbehandlung
  • Finanzierung und Organisation eines Massendienstes

Fazit: Ein Dienst für alle – aus Prinzip, nicht aus Zwang

Die Schweiz muss sich entscheiden, wie sie Gleichstellung definiert: Als Ideal mit Ausnahmen – oder als konsequenten Verfassungsauftrag. Eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen ist in einer modernen, pluralistischen Demokratie keine Zumutung, sondern Ausdruck einer solidarischen Gesellschaft. Sie ist kein Rückschritt in obrigkeitsstaatliches Denken, sondern Fortschritt im staatsbürgerlichen Bewusstsein.

Wer Gleichstellung ernst nimmt, muss auch Gleichverpflichtung einfordern.

Es ist Zeit für eine Schweiz, in der nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Pflichten für alle gelten.


Und zwar nicht irgendwann – sondern jetzt.

Spannender Beitrag auf SRF.ch:
Militär-Karriere als Frau – Offizierin: «Wehrpflicht für Frauen wäre Gleichberechtigung» – News – SRF

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