Bild: Afghanistan Interior Ministry

Der Qosh-Tepa-Kanal: Afghanistans ambitioniertes Bewässerungsprojekt mit weitreichenden regionalen Implikationen

Seit März 2022 treibt die Taliban-Regierung in Afghanistan den Bau des Qosh-Tepa-Kanals voran – ein monumentales Infrastrukturprojekt, das Wasser aus dem Amudarja-Fluss ableiten soll, um die landwirtschaftliche Produktion im Norden des Landes zu steigern. Der geplante Kanal erstreckt sich über 285 Kilometer und zielt darauf ab, etwa 550’000 Hektar bislang unfruchtbares Wüstengebiet in Ackerland zu verwandeln.

Während die Taliban dieses Vorhaben als Schlüssel zur Ernährungssicherheit und wirtschaftlichen Unabhängigkeit Afghanistans propagieren, löst es bei den flussabwärts gelegenen Nachbarstaaten – insbesondere Usbekistan und Turkmenistan – erhebliche Besorgnis aus.

Historischer Kontext und Zielsetzung

Die Idee eines grossangelegten Bewässerungssystems in Nordafghanistan ist nicht neu. Schon in den 1970er-Jahren existierten unter Präsident Mohammed Daud Khan Pläne zur Umleitung von Wasser aus dem Amudarja. Sie scheiterten jedoch an politischen Umbrüchen und mangelnder Infrastruktur. Auch spätere Regierungen griffen die Idee in verschiedenen Varianten auf – allerdings ohne konkrete Umsetzung.

Erst die Taliban schritten zum Bau. Der Qosh-Tepa-Kanal ist Ausdruck eines staatlichen Emanzipationsversuchs. Das Regime betont, dass die Finanzierung ausschliesslich aus inländischen Mitteln wie Kohleexporten, Steueraufkommen und Lizenzvergaben stammt – ohne internationale Hilfe, ohne Weltbank, ohne China oder Golfstaaten.

Das Projekt soll zwei Ziele erfüllen: die Transformation der heimischen Agrarwirtschaft und die symbolische Demonstration von Souveränität und Handlungsfähigkeit in einem international weitgehend isolierten Staat.

Technische Details und Fortschritt

Der Kanal beginnt im Distrikt Kaldar der Provinz Balkh, unweit der Grenze zu Usbekistan, und verläuft westwärts durch die Provinzen Dschuzdschan und Faryab. In der ersten Bauphase wurde der Aushub für über 100 Kilometer Kanalbett abgeschlossen. Die Arbeiten erfolgen mit schwerem Gerät, das zumeist aus China und Pakistan stammt.

Trotz des Tempos bleiben Zweifel: Der Boden in Nordafghanistan ist steinig, der Grundwasserspiegel tief. Ohne aufwendige Abdichtungen wird ein erheblicher Teil des Wassers versickern. Satellitenbilder zeigen bereits jetzt, dass Teile des Kanals undicht sind. Erste Überschwemmungen angrenzender Felder haben zu Spannungen mit lokalen Dorfgemeinschaften geführt.

Regionale Dynamiken und geopolitische Spannungen

Usbekistan und Turkmenistan sind massiv vom Wasser des Amudarja abhängig – nicht nur zur Bewässerung, sondern auch für industrielle Prozesse und Trinkwasserversorgung. Eine Schmälerung des Wasserflusses durch den Qosh-Tepa-Kanal könnte dort bereits bestehende Ressourcenengpässe verschärfen.

Diplomatische Kanäle zwischen Taschkent und Kabul existieren, aber die Gespräche verlaufen stockend. Usbekistan schlägt eine multilaterale Arbeitsgruppe vor, während die Taliban auf ihrer einseitigen Souveränität über die Wassernutzung beharren. Es gibt keine völkerrechtlich bindenden Verträge zwischen Afghanistan und seinen nördlichen Nachbarn über die Nutzung des Amudarja.

Gleichzeitig steigt die Nervosität in Moskau. Russland betrachtet Zentralasien als seinen sicherheitspolitischen Hinterhof. Sollte ein Wasserkonflikt eskalieren, wären russische Einflusszonen destabilisiert – eine Entwicklung, die auch China mit Sorge betrachtet.

Ökologische Risiken

Der Bau des Qosh-Tepa-Kanals könnte das ökologische Gleichgewicht der gesamten Region ins Wanken bringen. Der Aralsee – einst viertgrösster Binnensee der Welt – ist heute fast vollständig ausgetrocknet, vor allem wegen übermässiger Wasserentnahmen aus dem Amudarja.

Sollte Afghanistan weitere 15–20 Prozent des Wassers ableiten, wäre der vollständige Verlust der letzten Feuchtbiotope in Karakalpakstan wahrscheinlich. Auch das Mikroklima Zentralasiens könnte sich weiter verschlechtern – mit Folgen für Biodiversität, Landwirtschaft und menschliche Gesundheit.

Drei denkbare Szenarien

1. Unilateralismus und Konfrontation:
Die Taliban setzen den Kanalbau ohne Rücksicht auf Nachbarn und internationale Kritik fort. Infolge sinkender Wasserstände kommt es zu massiven Ernteausfällen in Usbekistan und Turkmenistan. Die politische Instabilität nimmt zu, Grenzkonflikte werden wahrscheinlicher.

2. Verhandlung und Koordination:
Mittels diplomatischer Vermittlung – etwa durch die UNO oder Shanghai Cooperation Organization (SCO) – gelingt eine trilaterale Vereinbarung zur Wassernutzung. Der Kanal wird fertiggestellt, aber durch technische Begrenzungen im Wasserdurchfluss so reguliert, dass kein Staat benachteiligt wird.

3. Technisches Scheitern:
Die Taliban unterschätzen die geologischen und hydrologischen Herausforderungen. Der Kanal versickert, verursacht Überschwemmungen oder bleibt aufgrund mangelnder Infrastruktur wirkungslos. Die Erwartungen der Bevölkerung zerschlagen sich – soziale Unruhen könnten folgen.

Fazit: Ein Symbol für Selbstermächtigung – mit Sprengkraft

Der Qosh-Tepa-Kanal ist weit mehr als ein wasserbauliches Grossprojekt: Er ist Ausdruck eines politischen Machtanspruchs in einer geopolitisch hochsensiblen Zone.

Für Afghanistan bedeutet der Kanal die Hoffnung auf landwirtschaftliche Autarkie, Beschäftigung und innenpolitische Stabilität. Für seine Nachbarn aber ist er ein potenzieller Auslöser für Ressourcenknappheit, ökologische Krisen und grenzüberschreitende Konflikte.

Wie der Kanal letztlich wirken wird – als Lebensader oder als Zündschnur –, hängt nicht nur vom technischen Gelingen ab, sondern auch vom politischen Willen zur Kooperation. In einer Region, in der Wasser knapper wird und Misstrauen wächst, ist der Qosh-Tepa-Kanal eine Zeitbombe – oder ein diplomatisches Wunderwerk in spe.

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